Die Flüsterer: Leben in Stalins Russland by Orlando Figes

Die Flüsterer: Leben in Stalins Russland by Orlando Figes

Autor:Orlando Figes [Figes, Orlando]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: BV Berlin verlage
veröffentlicht: 2016-01-05T16:00:00+00:00


Meine Lieben! Ich bin gesund und munter. Die Umstände haben mich daran gehindert, Euch früher zu schreiben. Macht Euch keine Sorgen um mich. Passt auf Euch selbst auf. Maria, mein Schatz, es wird schwierig für Dich sein, aber Du darfst die Hoffnung nicht aufgeben. Ich fahre nach Sibirien. Ich bin unschuldig. Wart auf mich, ich komm zurück.1

Der deutsche Überfall geschah mit solcher Wucht und so schnell, dass er die sowjetischen Streitkräfte völlig überraschte. Stalin hatte Geheimdienstberichte über deutsche Invasionsvorbereitungen ignoriert. Er tat sogar allerletzte Meldungen, die eine massive deutsche Truppenkonzentration an der Grenze bestätigten, als britischen Trick ab, durch den die Sowjetunion in die Kriegsfalle gelockt werden solle (er ließ die Überbringer der Nachricht als »britische Spione« erschießen). Die sowjetische Verteidigung befand sich in heilloser Unordnung. Nach der Unterzeichnung des Hitler-Stalin-Paktes waren die alten Verteidigungslinien aufgegeben worden, und die in den besetzten baltischen Staaten hastig errichteten neuen Befestigungen verfügten kaum über schwere Geschütze, Funkausrüstung oder Minenfelder. Sie wurden von den neunzehn Panzerdivisionen und fünfzehn motorisierten Infanteriedivisionen, die die Spitze der deutschen Invasionsstreitmacht bildeten, mühelos überwältigt. Eilig an die Front geworfene sowjetische Einheiten sollten die Lücken schließen, wurden aber von deutschen Panzern und Flugzeugen, die die Lufthoheit besaßen, vernichtet. Am 28. Juni, sechs Tage nach Beginn der Invasion, waren die deutschen Streitkräfte in einer gewaltigen Zangenbewegung durch Weißrussland vorgerückt, um Minsk, 300 Kilometer östlich auf sowjetischem Territorium, einzunehmen. Weiter im Norden hatten sie sich durch Litauen und Lettland vorgearbeitet und bedrohten Leningrad.

Konstantin Simonow erlebte das Chaos an der Weißrussischen Front aus nächster Nähe mit. Bei Kriegsbeginn hatte eine Armeezeitung ihn als Korrespondenten zur politischen Abteilung der Dritten Armee bei Grodno an der polnischen Grenze entsandt. Am frühen Morgen des 26. Juni traf er mit dem Zug in Borissow ein, konnte jedoch nicht weiterreisen, da die Strecke nach Minsk heftig bombardiert worden war. Simonow stieg aus und fand einen Fahrer, der ihn mit dem Auto nach Minsk bringen sollte; bald aber stießen sie auf die sowjetischen Truppen, die völlig unorganisiert zurückwichen. Deutsche Flugzeuge feuerten mit Maschinengewehren auf die Soldaten und warfen Bomben auf die Straße ab. Die Soldaten flohen in die Wälder. Ein Offizier stand mitten auf der Straße und brüllte die Männer an, er werde sie erschießen, wenn sie nicht umkehrten, wurde von ihnen jedoch schlicht ignoriert. In den Wäldern wimmelte es von Soldaten und Zivilisten, die Deckung vor den deutschen Flugzeugen suchten. Die Maschinen jagten über die Bäume hinweg und feuerten auf die Menschenmengen unter ihnen. Simonow wurde beinahe getötet, als ein erbeutetes sowjetisches Flugzeug etliche Menschen um ihn herum niedermähte. Es raste in so niedriger Höhe über die Bäume hinweg, dass er die Gesichter der deutschen Besatzung erkennen konnte. Nach Einbruch der Dunkelheit stolperte er zurück auf die Straße und entdeckte einen Kommissar, »einen jungen unrasierten Mann mit einer pilotka [Feldmütze] und einem Wintermantel. Aus irgendeinem Grund hielt er einen Spaten in den Händen.« Simonow stellte sich als Journalist vor und fragte den Mann nach dem Weg zum Fronthauptquartier. »Was für ein Hauptquartier?«, wollte der Offizier wissen. »Sehen Sie



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